Lettland – Schatten der Vergangenheit, Fragmente der Gegenwart
Kaum haben wir die Grenze von Estland nach Lettland überquert, ändert sich das Bild schlagartig. Während Estland aufgeräumt, digital, zukunftsgewandt wirkt, scheint in Lettland die Zeit mancherorts stehen geblieben zu sein. Verlassene Höfe, eingefallene Dächer, Häuser in desolatem Zustand – und doch leben hier noch Menschen. Manchmal sieht man inmitten der Bruchbuden einen gepflegten Garten oder frisch gewaschene Wäsche – stille Zeugnisse von Würde inmitten des Verfalls.
Wir fahren entlang der russischen Grenze – eine der empfindlichsten Nahtstellen Europas. Das Dreiländereck Estland–Lettland–Russland liegt tief im Wald- und Sumpfgebiet südöstlich von Alūksne und Vastseliina. Anders als etwa das Dreiländereck Deutschland–Polen–Tschechien ist dieser Punkt nicht frei zugänglich. Er liegt im Piusa-Fluss – umgeben von Sperrzonen, Stacheldraht, Grenzpatrouillen und digitaler Überwachung. Lettland hat den Grenzzaun errichtet – als physisches Symbol einer geopolitischen Zeitenwende.
Die Parallelen zur früheren innerdeutschen Grenze drängen sich auf – doch es ist kein Rückfall in alte Muster, sondern ein neues Kapitel der Abschottung: weniger brutal, aber nicht weniger konsequent. Der „neue Eiserne Vorhang“ besteht nicht mehr aus Beton und Selbstschussanlagen, sondern aus Visaregelungen, Biometrie, Überwachungstechnik – und politischem Misstrauen. Und eben diesem Zaun.
Rogosi Manor House im Drei-Länder-Eck
Eine Spurensuche im Nebel
Unsere erste Station in Lettland ist Rēzekne, einst Rossitten genannt. Hier haben Vorfahren meiner Familie gelebt, bevor sie am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben wurden. Ich spüre einen Anflug von Wehmut – und zugleich eine Leere. Zu vieles ist verloren, zu vieles unbekannt geblieben. Die Suche nach familiären Spuren bleibt ein stilles Echo im Kopf, das sich in dieser Stadt nicht beantworten lässt.
Rēzekne selbst wirkt müde. Viele Geschäfte stehen leer, die Straßen tragen den Staub vergangener Jahrzehnte. Die imposante Herz-Jesu-Kathedrale aus rotem Backstein (Vissvētākā Jēzus Sirds katedrāle) ist leider verschlossen. Und doch: Es gibt in der Stadt auch Zeichen des Aufbruchs – ein paar frisch gestrichene Fassaden, neue Gehwege, ein paar halbwegs belebte Plätze. Vielleicht ist auch hier etwas im Werden – leise, tastend, zäh.
Blick auf die Herz-Jesu-Kathedrale in Rēzekne
Ludza – Mauern der Vergangenheit, Fenster zum Himmel
Ludza (ehemals Ledsen) gilt als der älteste Ort Lettlands und trägt die Spuren einer langen und bewegten Geschichte. Hoch über der Stadt ragen die Ruinen einer mittelalterlichen Festung empor – stille Zeugen vergangener Machtkämpfe und Grenzverschiebungen. Gleich daneben erhebt sich die katholische Kirche, deren Türme weit ins Land hinaus sichtbar sind und die Silhouette prägen. Unten im Stadtkern wiederum steht als Gegenstück die orthodoxe Kirche. So spiegeln sich in Ludza die religiösen Traditionen und kulturellen Einflüsse wider, die diese Region seit Jahrhunderten geprägt haben.
Als ich die orthodoxe Kirche betrat, hatte ich das Gefühl, in eine andere Wirklichkeit einzutreten. Mein Blick blieb an den goldschimmernden Ikonen hängen, an den leuchtenden Farben der Ikonen, die in ihrer Strenge und Tiefe fast zu atmen schienen. Kerzen flackerten, ihr warmes Licht legte sich über die Gesichter der Heiligen und ließ den ganzen Raum still und zugleich lebendig wirken.Ein Mann mittleren Alters entzündete Kerzen und betete vor den Altären in der Kirche.
Mir wurde bewusst, wie anders hier Glaube erfahrbar wird als in den Kirchen, die ich von zuhause kenne. In katholischen Kirchen entdecke ich barocke Pracht und Statuen, die Geschichten erzählen und belehren wollen. Evangelische Kirchen sind oft schlicht, reduziert, das Wort und die Predigt stehen im Zentrum.
Die Orthodoxie dagegen wirkt wie ein Mysterium. Die Ikonen sind keine bloßen Bilder, sondern Fenster zum Himmel, die Ikonostase (die Bilderwand in orthodoxen Kirchen, die den Altarraum vom Kirchenschiff trennt) trennt macht spürbar: Das Heilige bleibt verborgen, entzieht sich meinem Zugriff. Und gerade dadurch ist es so nah.
Vielleicht liegt darin der größte Unterschied: Während im Westen oft das Denken oder das Dogma betont wird, begegnet man hier dem Glauben durch Schönheit, Symbol und Staunen. Ich verließ die Kirche nicht mit mehr Wissen, sondern mit mehr Gefühl – und mit der Sehnsucht, dieser Form von Spiritualität weiter nachzuspüren.
Kirche Mariä Himmelfahrt in Ludza
Deckengemälde in der orthodoxen Kirche von Ludza
Daugavpils – die goldenen Kuppeln von Boris und Gleb
Weiter nach Süden geht es über endlose Schotterstraßen nach Daugavpils (ehemals Dünaburg), vorbei an einsam stehenden Höfen und immer in der Nähe zur belarussischen Grenze – sichtbar wird sie hier allerdings nicht, dafür sind wir noch zu weit entfernt. Daugavpils ist die zweitgrößte Stadt Lettlands, von Schwerindustrie geprägt und bis heute durchzogen vom Charme sozialistischer Stadtbau"kunst".
Kaum zu übersehen ist die gewaltige Boris-und-Gleb-Kathedrale, die größte orthodoxe Kirche Lettlands. Mit ihren fünf vergoldeten Kuppeln erhebt sie sich über die Stadt – Sinnbild der russisch-orthodoxen Tradition in einer Region, in der bis heute viele Menschen russischsprachig sind; nur etwa ein Fünftel der Einwohner sind Letten.
Erbaut wurde die Kathedrale zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Daugavpils noch zum Russischen Reich gehörte. Innen überrascht sie mit Weite, unzähligen Ikonen und Altären, vor denen Betende Kerzen entzünden. Wer eintritt, spürt die andere Welt der Orthodoxie – getragen von Gesängen, Weihrauch und der besonderen Feierlichkeit des Raumes - das, was ich oben skizzierte. Die Kirche ist aber nicht nur religiöses Zentrum, sondern auch Symbol für die Geschichte Daugavpils: zwischen Lettland und Russland, zwischen Tradition und Moderne.
Orthodoxe Kirche Boris und Gleb in Daugavpils
Aglona – Lettlands Herz des Katholizismus
Mitten in der Seenlandschaft von Latgale erhebt sich die weiße Basilika von Aglona – schlicht und doch erhaben. Zwei Türme ragen in den Himmel, ein barockes Gotteshaus, das seit Jahrhunderten Ziel von Pilgern ist. Wer hierherkommt, spürt sofort: Dies ist nicht nur eine Kirche, sondern ein geistiges Zentrum.
Im Inneren wird ein wundertätiges Marienbild verehrt – für viele das Herzstück des lettischen Katholizismus. Besonders berührt hat mich die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen ihren Glauben leben: junge Frauen, die beim Betreten der Kirche ohne Zögern ein Tuch über den Kopf legen, oder ein Paar mittleren Alters, das sich beim Eintritt sofort hinkniete und bekreuzigte. In solchen Momenten wird die tiefe Verwurzelung des Glaubens greifbar. Auch die Päpste haben diesen Ort gewürdigt: Johannes Paul II. kam 1993 nach Aglona, Papst Franziskus besuchte die Basilika 2018.
Für Lettland, lange geprägt von Fremdherrschaft, sind solche Augenblicke weit mehr als religiöse Geste – sie sind Ausdruck von Identität und Selbstvergewisserung.
Basilika von Aglona
Entlang der Daugava – von Preiļi nach Zasa
Weiter geht es über Preiļi, wo sich ein verwunschener Schlossgarten mit einem Herrenhaus findet. Ein Café, das hier eigentlich geöffnet sein sollte, bleibt verschlossen – sinnbildlich für den geringen Einsatz, den Lettland außerhalb von Riga in den Ausbau des Tourismus zeigt. Dabei hat dieses Land so viel zu bieten: eine abwechslungsreiche Landschaft, eindrucksvolle Sehenswürdigkeiten und Orte voller Geschichte. Doch Campingplätze sind rar – und selbst dort, wo es welche gibt, stehen wir oft alleine.
Wir folgen der Daugava (ehemals Düna), dem "Mutterfluss Lettlands". In der Mythologie gilt sie als Quelle von Kraft und Leid, unzählige Volkslieder besingen ihren Lauf. Eigentlich wollen wir den Fluss mit einer Fähre überqueren, doch als wir dieses fragile, fast zerbrechlich wirkende Wesen sehen, entscheiden wir uns für einen längeren Umweg.
In Zasa finden wir schließlich einen privaten Campingplatz neben einer alten Mühle, die von einem Deutschen seit Jahren liebevoll restauriert wird. Hardy, der Besitzer, hat aus dem verfallenen Gebäude ein kleines Juwel geschaffen – mitsamt parkartigem Gelände, auf dem sich einige Camper verteilen. Der Platz ist gut besucht, ganz im Gegensatz zu vielen anderen in Lettland. Es zeigt sich: Mit einer anderen Herangehensweise an das Thema Tourismus lassen sich durchaus bessere Ergebnisse erzielen (ja, ich weiß, es ist wieder dieser besserwisserische deutsche Unterton - aber es liegt einfach auf der Hand). Wer mehr über Hardy und seine Mühle erfahren möchte, dem sei dieser hörenswerte Podcast empfohlen:
Die Mühle von Zasa – Die Lebensgeschichte von Hardy Kortmann.
Was es mit den Fensterläden der Mühle auf sich hat, erfahrt ihr im Podcast
Weiter durch Lettland geht es in einem zweiten Teil.