Tallinn zwischen Glanz und Graben
Nach Wochen in skandinavischer Weite, in Stille und Natur, prallt Tallinn wie ein Kontrastprogramm auf uns. Die estnische Hauptstadt ist zweifellos ein Muss – doch der Kulturschock ist real. Busladungen, Kreuzfahrtschiffe, Tagesgäste: Wenn mehrere Ozeanriesen gleichzeitig anlegen, ergießen sich Tausende Menschen in die engen Gassen der Altstadt. Es wird eng, laut und touristisch – fast schon überdreht.
Dabei ist die Altstadt zweifellos schön: ein mittelalterliches Juwel mit gut erhaltenen Stadtmauern, verwinkelten Gassen, Gildehäusern, Kopfsteinpflaster und Aussichtsterrassen über der Unterstadt. Doch vieles wirkt zu sehr auf Effekt getrimmt. Ich habe selten außerhalb Italiens so viele Pizzerien gesehen. Authentisch ist das nicht – aber vermutlich sind auch wir Teil des Problems. Was ist touristisch „verdorben“? Und wo beginnt unsere eigene Mitverantwortung?
Gassen in Tallinn
Wirklich eindrucksvoll ist die orthodoxe Alexander-Nevski-Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen. 1900 erbaut, als Estland noch Teil des Russischen Zarenreichs war, thront sie prominent auf dem Domberg – direkt gegeneinander des estnischen Parlaments. Ein architektonisches Statement imperialer Macht, das bis heute nachwirkt.
Alexander-Nevski-Kathedrale
Ein paar Schritte weiter, vor der Russischen Botschaft, eine unübersehbare Plakatwand: Parolen, Fotos, Mahnungen. Deutlich, emotional, unversöhnlich. Die estnische Geschichte mit Russland ist keine ferne Episode, sondern eine offene Wunde. Und der Ukraine-Krieg hat vieles wieder aufgerissen, was eigentlich verheilt war.
Plakatwände vor der russischen Botschaft
Doch gerade deshalb sollten wir vorsichtig sein, die Gräben nicht weiter zu vertiefen. Geschichte braucht Erinnerung – aber auch die Bereitschaft zum Gespräch. Wenn wir den Dialog verlieren, verlieren wir mehr als Worte. Dann bleiben nur noch Bilder auf Plakaten, aufgeladen mit Angst, Wut und Schuld.
Verständigung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern die einzige Chance, dass aus Gegnerschaft wieder Nachbarschaft werden kann. Auch wenn der Weg dahin lang ist – wir sollten ihn nicht aufgeben. Nicht hier, nicht heute.
Politik basiert auf der Tatsache der Pluralität von Menschen. Freiheit entsteht aus dem Zusammenkommen der Verschiedenen. (Hannah Arendt)
Ein Herrenhaus zwischen Teichen und Alleen
Von Tallinn aus zieht es uns Richtung Osten, der russischen Grenze entgegen. Die Straße führt durch eine fast brettebene Landschaft, dicht bewaldet, immer wieder unterbrochen von kleinen, gepflegten Dörfern – und ebenso oft von verlassenen Häusern, deren bröckelnde Fassaden stumm von vergangenem Leben erzählen.
Einen Halt machen wir in Palmse. Hier steht ein Herrenhaus, wie es einst viele in Estland gab – errichtet von der deutschen Oberschicht, die das Land jahrhundertelang prägte. Palmse Manor gilt als eines der prachtvollsten seiner Art: umgeben von einem weitläufigen Park mit stillen Teichen, schnurgeraden Alleen und ehrwürdigen alten Bäumen. Einst war es das Herz eines Gutshofes, heute ist es sorgfältig restauriert und Teil des Lahemaa-Nationalparks – ein Ort, an dem Geschichte und Natur in seltener Harmonie zusammentreffen.
Wäre da nicht der andere Besucher: der Touristenbus. Gekarrt von den Kreuzfahrtschiffen, ergießen sich hier plötzlich ganze Menschenschwalle über Wege und Parkanlagen. Nach den stillen, weiten Landschaften Skandinaviens fühlen sich diese Gruppen wie ein kleiner Kulturschock an – und erinnern uns daran, wie sehr wir in den letzten Wochen die Ruhe schätzen gelernt haben.
Palmse Manor House
Sillamäe wirkt heute wie eine seltsame Mischung aus Seebad und Sowjetdenkmal. Ende des 19. Jahrhunderts zog der breite Strand wohlhabende Gäste aus St. Petersburg an, bis die Sowjets den Ort nach dem Krieg in eine geheime Uranstadt verwandelten – streng bewacht, von den Landkarten getilgt. Das Uran für das sowjetische Atomprogramm kam zunächst aus dem örtlichen Brennschiefer, später aus Importen. Die Fabrik und ein riesiger radioaktiver Absetzteich direkt an der Küste hinterließen schwere Altlasten, die erst in den 2000ern saniert wurden.
Heute zeigt sich Sillamäe offen und einladend. Die Promenade zieht sich am Meer entlang, flankiert von den Villen der Vorkriegszeit und dem stalinistischen Zuckerbäckerstil der Nachkriegsjahre. Der Wind trägt den salzigen Duft der Ostsee durch Straßen, die ihre Geschichte nicht verstecken können – selbst wenn man es wollte.
Unverständlich bleibt uns, warum diese Stadt touristisch kaum wahrgenommen wird. Eigentlich wirkt Sillamäe wie ein kleines Odessa: charmant, etwas nostalgisch, mit einer Architektur, die zwischen mondänem Glanz und sozialistischer Monumentalität pendelt. Man bemüht sich sichtbar um den Erhalt der teils durchaus ansprechenden Fassaden, doch zwischen den frisch gestrichenen Mauern liegt manchmal noch ein Hauch von vergangener Vernachlässigung – ein feiner, fast unsichtbarer Schleier, der wie der leichte Schimmelgeruch an der Promenade in der Luft hängt.
Stalins Vermächtnis in Sillamäe
Estland am schmalen Grat zwischen Ost und West
Estland ist ein zerrissenes Land – zerrissen zwischen seiner europäischen Zukunft und der schwierigen Vergangenheit mit dem großen Nachbarn im Osten. Jahrzehnte sowjetischer Besatzung haben tiefe Spuren hinterlassen: Deportationen, Unterdrückung, der Verlust der eigenen Sprache im öffentlichen Raum. Für die meisten Esten ist Russland bis heute nicht Partner, sondern Bedrohung.
Zugleich lebt fast ein Viertel der Bevölkerung russischsprachig – viele von ihnen seit Generationen hier, doch oft ohne volle Staatsbürgerschaft und mit dem Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Der Krieg in der Ukraine hat die Gräben vertieft.
An der Grenze in Narva, wo heute nur noch Fußgänger passieren dürfen, endet nicht nur das Staatsgebiet, sondern auch der gemeinsame Lebensraum. Es macht traurig, auf diesen Grenzübergang zu blicken, der zwei Städte trennt, die bis 1991 untrennbar miteinander verbunden waren. Die Hoffnung bleibt, dass die Wunden der Vergangenheit eines Tages heilen – und dass das kleine Land seinen Platz in Europa sicher behaupten kann.
Narva selbst wirkt heute gesichtslos. Weite Teile bestehen aus sozialistischer Nachkriegsarchitektur – ein Ergebnis der verbrannten Erde, die deutsche Truppen beim Rückzug hinterließen. Von der einstigen Altstadt ist kaum etwas geblieben, und so liegt über der Stadt ein schwer greifbarer Schatten der Geschichte.
Blick von Narva nach Isgorod
Tartu – Kontraste im Herzen Estlands
Von Narva aus geht es weiter nach Süden, unser nächster Halt ist Tartu – offiziell die zweitgrößte Stadt Estlands. Sie vereint auf besondere Weise Alt und Neu: In der Innenstadt lädt eine lebendige Fußgängerzone mit zahlreichen Cafés und Restaurants zum Verweilen ein, in der Markthalle duftet es nach frischem Brot, regionalem Käse und sonnengereiftem Obst. Ringsum stehen charmante Holzhäuser in ganz unterschiedlichem Zustand – von sorgfältig restauriert bis nostalgisch-verwittert. Fast abrupt wechselt das Bild: modernes Tartu mit klaren Linien, Glasfassaden und urbaner Dynamik. Dieser Gegensatz macht den Reiz der Stadt aus.
Hinter Tartu folgen wir kleinen Straßen nach Süden, oft auf Schotterpisten, vorbei an Feldern und Wäldern, immer dicht entlang der russischen Grenze. Wirklich nahe kommen wir ihr nur zweimal: einmal an einem Metallplattenzaun mit Wachttürmen, den wir von der anderen Talseite sehen – und einmal an einem Zugang, den wir lieber meiden, um möglichen Diskussionen mit Grenzbeamten aus dem Weg zu gehen.
Auf diesen Wegen fällt uns immer wieder auf, wie gepflegt Estlands Dörfer sind – selbst die entlegensten Ansiedlungen, die man erst nach zehn Kilometern Schotterpiste erreicht. Gemähte Rasen, blühende Beete, kleine Arrangements vor den Häusern. Und dazu Straßen, wie man sie bei uns in Deutschland zunehmend seltener findet: eben, sauber, tadellos in Schuss.
Tartu: Rathaus, schiefes Haus, Markthalle,
Estland: Digitalisierungs-Mythos vs. Alltag
Estland gilt als das digitale Vorzeigeland Europas – E-Government, Online-Wahlen, digitale Unterschriften, Park-Apps. Klingt nach Zukunft. In der Praxis fühlt sich das aber oft an wie ein Tesla mit leerem Akku: beeindruckend in der Theorie, aber stehenbleibend, wenn es darauf ankommt.
Klar, die Verwaltung ist online und viele Dinge könnten papierlos laufen. Aber dafür braucht man Netz. Und das ist hier kein selbstverständliches Gut. Schon in kleineren Städten gibt es Funklöcher, in Küstenorten oder im Wald und insbesondere im ungeliebten russischen Ostteil sowieso. Wer dann per App parken oder online zahlen will, kann nur hoffen, dass gerade ein Datenbalken vorbeikommt.
Und selbst wenn das Netz steht, muss der Mensch am anderen Ende mitspielen. Viele kleine Geschäfte, Märkte oder Campingplätze bevorzugen schlicht Bargeld. Nicht, weil sie keine Kartenleser kennen, sondern weil sie es so wollen. „Cash ist sicherer“, „die Gebühren sind zu hoch“ oder „das haben wir schon immer so gemacht“ – die Argumente sind so analog wie die Kassen.
Das Ergebnis: Estland lebt in einer seltsamen Doppelrealität. Auf dem Papier (oder besser: im Code) ist es eine vernetzte Nation, im Alltag aber oft eine Mischung aus Hightech-Portal und Bargeldkasse. Wer hier unterwegs ist, sollte sich darauf einstellen – und sowohl die Park-App und Kleingeld dabeihaben. Digitaler Pioniergeist hin oder her: Der Alltag ist anders.
Tartu: Holzhäuser, modernes Tartu