Kirkenes ist, wie ich schon schrieb, ein funktionaler und nicht wirklich ästhetischer Platz - geschuldet der Geschichte des zweiten Weltkriegs. Der Stellplatz ist ebenso nüchtern und funktional wie die ganze Stadt. Immerhin legen hier die Hurtigrouten-Schiffe Richtung Bergen ab.
MS Nordkapp beim Einlaufen in Kirkenes
Die Nähe zu Russland ist überall zu spüren. Zweisprachige Straßenschilder, die russische Grenze ist einen Steinwurf entfernt und doch (fast) unüberwindlich. Hier gab es bis 2014 einen regen grenzübergreifenden Austausch. Es gab nur eine Proforma-Visa-Pflicht und Norweger sind zum Tanken oder zum Zahnarzt nach Russland gefahren und die Russen haben in Norwegen bzw. Kirkenes eingekauft oder gearbeitet. Sogar die Schulen waren hier teilweise zweisprachig. Alles kaputt - dank einer Politik, zu der ich mich hier nicht äußern will, sonst verliere ich wieder Kundschaft.
Es ist hier ein bisschen wie in der Normandie: Man stolpert ständig über Geschichte. In der Normandie kann man dem gar nicht ausweichen, während man in Norwegen schon ein bisschen hinschauen muss. Aber Norwegen, besonders Nordnorwegen war schwer gezeichnet. Kirkenes war nach La Valetta die am heftigsten bombardierte Stadt des zweiten Weltkriegs. Die Russen haben es wiederaufgebaut - übrigens ohne besondere Ansprüche, rein aus humanitärer Absicht und völlig anders als damals in der DDR, Polen und den Ostblockstaaten.
Ein Linienbus pro Tag überquert hier noch die Grenze
Ein Abstecher nach Grense Jakobselv bringt uns noch näher an die russische Grenze. Wir sehen die Wachtürme auf der russischen Seite und wir begegnen freundlich gestimmten norwegischen Grenzsoldaten.
Grense Jakobselv ist ein kleiner, abgelegener Ort ganz im Nordosten Norwegens, direkt an der Grenze zu Russland. Er liegt etwa 60 km östlich von Kirkenes an der Mündung des gleichnamigen Flusses Jakobselva, der hier die natürliche Grenze zwischen Norwegen und Russland bildet. Die Region hat sowohl strategische als auch kulturelle Bedeutung – und ist landschaftlich spektakulär.
Grense Jakobselv wurde historisch von der norwegischen Regierung gezielt militärisch und symbolisch besetzt, um die norwegische Souveränität zu unterstreichen. Am Ende der Straße gibt es deshalb oberhalb auf einem Berg eine kleine norwegische Militärstation. Russland ist auf der anderen Seite des Flusses oft nur wenige Meter entfernt. Es gibt keine Brücke über den Fluss – Grenzübertritt ist streng verboten und wird überwacht. Eine kleine Steinkapelle steht direkt am Meer, errichtet zu Ehren des schwedisch-norwegischen Königs Oskar II. Auch sie war weniger der Religionsausübung als vielmehr ein Grenzsymbol, um die norwegische Präsenz in diesem abgelegenen Gebiet zu festigen.
Hier, an Grense Jakobselv ist Westeuropa definitiv zu Ende.
Einer der schönsten Plätze in Nordnorwegen
Rückkehr aus der Arktis
Grense Jakobselv markiert für uns den nördlichsten Punkt unserer Reise – zugleich auch den Wendepunkt. Zehn Wochen liegen hinter uns, zehn weitere vor uns. Mit dem Überqueren der finnischen Grenze verändert sich das Landschaftsbild: Die dramatischen Fjorde und kargen Hochebenen Norwegens weichen einer sanften, waldreichen Weite. Seen, Sümpfe, flache Hügel – und Mücken, natürlich. Aber an die haben wir uns inzwischen fast gewöhnt.
Zwischen Sami-Kultur und Polargrenze
In Inari legen wir einen Stopp ein. Der Ort ist ein kulturelles Zentrum der Samen, des indigenen Volkes Nordeuropas. Hier hat das Sámediggi, das samische Parlament Finnlands, seinen Sitz. Es vertritt die Interessen der Sami in Bildung, Sprache, Kultur und Landrechten. Das moderne Parlamentsgebäude am Ufer des Inarijärvi ist nicht nur architektonisch spannend, sondern auch ein Symbol für die Wiedergewinnung kultureller Selbstbestimmung. Und wenn es vor allem nur Symbolpolitik ist - es ist ein Anfang für eine demokratische Würdigung eines fast an den Rand gedrängten Volks.
Wenig später erreichen wir Rovaniemi, die inoffizielle Hauptstadt Lapplands – direkt auf dem Polarkreis gelegen. Hier verlassen wir offiziell die geografische Arktis. Das Arktikum, ein modernes Wissenschaftszentrum und Museum, bietet einen lohnenswerten Überblick über die Ökologie der Polarregionen, die Geschichte Lapplands und den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Rovaniemi wurde 1944 von der deutschen Wehrmacht nahezu vollständig zerstört – wie viele Städte in Lappland. Heute erinnert kaum noch etwas daran, aber die Narben sind da – sichtbar für jene, die genau hinsehen.
Sami-Parlament in Inari
Reden statt ruinieren
Gerade hier, in einer Region, die im Krieg fast vollständig ausgelöscht wurde, spürt man: Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Wer heute lautstark nach “Kriegstüchtigkeit” ruft, sollte sich die Trümmer der Vergangenheit vergegenwärtigen. Kriege lösen keine Probleme – sie vervielfachen sie. Wer nicht mehr miteinander redet, verliert am Ende alles.
Zurück am Meer
In Oulu stoßen wir nach Wochen im Binnenland endlich wieder auf die Ostsee – und erleben ein fast mediterranes Gefühl: Ein großer Campingplatz in Strandnähe, eine lebhafte Promenade, sommerliche Temperaturen. Das erinnert mehr an Jesolo und Rimini als an Finnland. Und ja – die Hitze ist ungewöhnlich. Aber bevor jetzt jemand mit dem Thema Klimawandel um die Ecke kommt: Im Mittelalter wurde in Südschweden Wein angebaut – und das war kein Eiswein.
Adria-Feeling in Oulo