Vielleicht ist das das Schönste am Reisen in dieser Lebensphase: dass man nicht mehr muss. Sondern darf.

Alle zwei, drei Tage ein Supermarktstopp. Kuchen muss sein – am liebsten Prinsesstårta, aber bitte nicht in der IKEA-Variante. Oder Chokladbollar, die beherrschen die Schweden meisterlich: zart, nicht zu süß, fast ein kleines Ritual am Nachmittag. Mehr braucht es nicht zum Glück.

Nebenher: Alltag im Ausnahmezustand. Die Post kommt digital – eingescannt von unserer Tochter, wir beantworten sie, wenn das Netz reicht. Ich schreibe an meinem neuen Arbeitsbuch über DEVONthink. Es ist ein seltsamer Kontrast: digital arbeiten mitten im schwedischen Wald.


Unterwegs zwischen Dellen und Höga Kusten

Dann ein Stopp mit Ausblick: Der Dellen-See, entstanden vor fast 90 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag. Der Blick von oben ist weit und klar, das Wasser tiefblau. Ein stiller Ort mit kosmischer Geschichte.

Dellen-See

Bei Sundsvall stehen wir auf einem Naturcampingplatz oberhalb der Ostsee, inmitten duftender Kiefern. Fußläufig: ein verlassener Ort der Robbenfänger. Die Spuren der Vergangenheit verwischen langsam im Moos.

Nördlich beginnt sie dann – die sagenumwobene Höga Kusten, Schwedens hohe Küste. Dramatische Felsabbrüche, stille Buchten, Kiefern, die sich an die Granitklippen klammern. Entstanden nach der letzten Eiszeit durch die fortschreitende Landhebung – bis heute hebt sich das Land hier um etwa 8 mm pro Jahr. UNESCO-Weltnaturerbe. Und: ein Ort für große Atemzüge.

Höga Kusten

Wir machen Station in Måviken, einst ein Umschlagplatz für Holz – heute ist schlichtweg nichts mehr davon übrig geblieben, Wind in den Grasbüscheln und das Rauschen der Wellen. Industriegeschichte, die zu Staub wurde.

Maviken

Weiter geht’s nach Örnsköldsvik, wo der Fjällräven-Outlet-Store lockt – Pflichtstopp für alle Outdoorfans. Preiswert ist es hier nicht. Aber wir brauchen Wanderschuhe, und wie oft ist man schon hier? Danach: Waschpause. Wir stehen allein auf einem Campingplatz auf einer kleinen Insel, mit weitem Blick über einen Ostseearm. Vorsaison, Vogelrufe, völlige Ruhe. Manchmal ist das Alleinsein ein Geschenk.

Fjällräven-Outlet-Store

Am nördlichen Ende der Höga Kusten dann noch ein Abstecher nach Skeppsmalen, ein Fischerdorf wie aus dem Bilderbuch. Rote Holzhäuser, ein alter Leuchtturm auf den Granitfelsen, das Museum geschlossen – aber das Licht, das Licht! Und der Wind, der Geschichten erzählt.

Das vermeintliche Zwischenziel auf der Etappe – Gideå Bruk – enttäuscht. Kein Eisenwerk, keine historische Sägemühle, keine Spur von vergangenem Glanz. Vielleicht war das mal hier. Vielleicht nicht ein Eintrag im schwedischen Wikipedia. Aber auch das gehört zum Reisen: Dass nicht alles so kommt, wie man es sich ausmalt. Und manchmal ist die Leere ein guter Ort, um die Richtung neu zu bestimmen.


Zwischenstopp mit Eisen-Patina

Nordmaling ist kein Ort, der sich aufdrängt. Kein touristisches Glanzlicht, sondern eher ein pragmatischer Knotenpunkt für alle, die auf dem Weg nach Norden sind – oder gerade von dort kommen. Der örtliche Campingplatz liegt verkehrsgünstig und schlicht, ein klassischer Transitplatz.

Doch wer sich zu Fuß ein Stück vom Platz entfernt, stößt unverhofft auf ein Stück Industriegeschichte: Olofsfors Bruk. Die ehemalige Eisenhütte wurde bereits 1762 gegründet und zählt heute zu den besterhaltenen ihrer Art in Schweden. Hochöfen, Schmiede, Arbeiterhäuser – vieles ist noch erhalten und liebevoll restauriert. Heute ist das Gelände ein lebendiges Industriedenkmal mit Museum, Handwerksläden und gelegentlichen Veranstaltungen. Man spürt: Hier wurde gearbeitet, geschwitzt, gelebt. Ein stiller Ort mit rostiger Würde – perfekt für eine kleine Zeitreise zwischen zwei langen Wegstrecken.

Olosfors Bruk


Die vergessene Seilbahn von Örträsk

Auf dem Weg durch das lappländische Inland stoßen wir auf einen Ort, der aus der Zeit gefallen scheint: Örträsk. Ein verschlafenes Dorf mit knapp 20 Einwohnern – und einem Kapitel Industriegeschichte, das man hier kaum vermuten würde.

Denn Örträsk war einst Teil eines gigantischen Projekts: der längsten Seilbahn der Welt, gebaut 1943 zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Über fast 100 Kilometer transportierte sie Eisenerz von der Grube Kristineberg durch die Wälder Lapplands bis zum Hafen in Skellefteå, wo es verschifft wurde. Die Bahn schwebte über Sümpfe, Seen und Wildnis – ein technisches Wunderwerk in einer menschenleeren Landschaft.

Nach der Stilllegung des Erztransports in den 1980er-Jahren blieb ein Teilstück bei Örträsk erhalten und wurde bis 2017 als Touristenattraktion betrieben. Heute ist davon kaum mehr als ein Lost Place übrig: verrostete Stützen, verblichene Hinweisschilder, stille Spuren einer fast vergessenen Vision.

Wer mit offenen Augen durch Örträsk geht, kann sie noch erkennen – die Reste einer Zeit, in der man sogar den Himmel mit Technik bespannte. SPIEGEL-Artikel: 20 Einwohner und eine Rekordseilbahn.

Örtrask Grube und Seilbahn


Im Wald verschluckt: Die Geisterstadt von Laver

Dann ein anderer Lost Place: Tief im schwedischen Inland, fernab der großen Routen, stoßen wir auf einen weiteren Ort, der schweigt: Laver Gruvan – oder wie es früher hieß: Laver. Was heute wie ein verwachsener Waldpfad wirkt, war einst Schauplatz eines ambitionierten Experiments.

1936 entdeckte man hier Kupfer – mitten in der Wildnis von Norrbotten. Innerhalb kürzester Zeit entstand eine ganze Bergbausiedlung: mit Schule, Elektrizität, Zentralheizung und sogar fließendem Wasser – damals eine Sensation. Laver galt als eine der modernsten Städte Schwedens, gebaut für 350 Menschen, die das Erz fördern und verarbeiten sollten.

Doch das Glück währte nicht lange: Bereits nach zehn Jahren, 1947, war der Abbau unrentabel – die Grube wurde geschlossen, die Stadt aufgegeben. Zurück blieb: nichts. Kein Dorf, keine Häuser – nur ein paar Fundamente im Wald, eine halb verfallener Förderturm, einige Gedenktafeln.

Wer heute durch die Bäume streift, braucht Fantasie – und etwas Ehrfurcht. Denn hier stand einmal ein Ort voller Hoffnung, voller Zukunft. Jetzt ist Laver ein verlorener Ort, zurückerobert von Moos, Birken und dem Schweigen der Natur.

Laver Gruvan


Pause, Stromschnellen und ein unauffälliger Polarkreis


Ein paar Tage Ruhe. Wir stehen in erster Reihe direkt am Seeufer, der Blick aufs Wasser ist unbezahlbar. Der Campingplatz wirkt ein wenig improvisiert, charmant unordentlich – aber die Gastgeber begegnen uns mit echter Herzlichkeit. Wir brauchen genau das: eine Pause. Und ein Berg Wäsche wartet auch noch.

Moskosel heißt der kleine Ort – nicht viel los hier, aber genau richtig, um durchzuatmen.

 Moskoselet 

Nach der Erholung: 50 Kilometer Schotterpiste, vorbei an Wäldern, Flüssen und Rentierspuren. Dann erreichen wir die Storforsen – mit bis zu 250.000 Litern Wasser pro Sekunde die größten Stromschnellen Skandinaviens. Über fast fünf Kilometer stürzt sich der Fluss in gewaltigen Kaskaden zu Tal. Der Lärm ist ohrenbetäubend, die Wucht beeindruckend. Und doch: Inmitten all der Urgewalt liegt auch etwas Meditatives.

Ein Ort, an dem man die rohe Kraft der Natur nicht nur sieht – sondern spürt.

Storforsen

Dann weiter nordwärts, Richtung Jokkmokk. Der Moment der Polarkreis-Überquerung? Nüchtern. Ein kleiner Parkplatz, ein schlichtes Restaurant, ein unspektakuläres Schild. Keine Magie, keine Show – nur ein geografischer Punkt. Ich hätte mir etwas mehr Inszenierung gewünscht. Aber vielleicht ist gerade das typisch für den Norden: kein Aufhebens, kein Spektakel – nur Klarheit.

Polarkreis

Fortsetzung folgt.