Warum wir den Kontrollverlust längst erlebt haben
Als Edward Snowden 2013 die systematische Massenüberwachung durch die NSA enthüllte, glaubten viele, es handele sich um einen Ausnahmezustand. Ein Skandal, der durch Reformen, Gesetze oder technische Gegenmaßnahmen einzudämmen wäre. Doch über zehn Jahre später zeigt sich: Snowdens Warnung war keine Momentaufnahme, sondern der Auftakt zu einem Zeitalter strukturellen Kontrollverlusts.
Wir leben heute nicht mehr nur im digitalen Panoptikum klassischer Überwachungsapparate. Die nächste Eskalationsstufe heißt: Künstliche Intelligenz. Und sie verändert nicht nur, was über uns gesammelt wird, sondern wie diese Daten verarbeitet, kombiniert, interpretiert – und gegen uns verwendet werden können.
Vom Datensammeln zum Deuten – KI als Interpretationsmaschine
Snowden dokumentierte die Erfassung. KI vollendet sie.
Wo früher Milliarden Rohdaten gespeichert wurden, um irgendwann vielleicht relevant zu werden, analysieren heute lernende Systeme diese Daten in Echtzeit: Bewegungsmuster, Mimik, Schreibstil, Tonfall – alles wird zum Ausdruck einer „wahrscheinlichen Identität“, eines Risikoprofils, eines mutmaßlichen Verhaltens. Und das ohne dein Wissen, ohne dein Zutun, ohne dein Widerspruchsrecht.
Die KI ist der Interpret, der deine Persönlichkeit extrapoliert, lange bevor du selbst weißt, was du tust. Sie erkennt Vorlieben, Neigungen, Instabilitäten – und ist damit mehr als ein Werkzeug: Sie wird zum vorauseilenden Urteil.
Datenschutz in Zeiten lernender Systeme – eine Illusion?
Das Datenschutzrecht war nie für eine Welt gebaut, in der Maschinen besser vorhersagen können, wer du bist, als du selbst. Begriffe wie Einwilligung, Zweckbindung oder Datenminimierung wirken in der Ära selbstoptimierender Modelle wie Relikte aus der Postkutschenzeit. Eine KI braucht keine Klarnamen. Sie erkennt dich an deiner Stimme, deinem Gang, deiner Handschrift. An Metadaten, Kontexten und Korrelationen, die du nie bemerkt hast.
Und: Sie verlernt nicht.
Was einmal eingespeist wurde, bleibt Teil des Modells. Löschung? Rücknahme? Kaum möglich. Jeder digital erfasste Moment wird Teil eines permanenten Trainingsdatensatzes – deines permanent record.
Der Zug ist abgefahren – wir sitzen längst drin
Der entscheidende Punkt: Wir haben diesen Zustand nicht in der Zukunft zu befürchten. Wir leben bereits darin. Jede App, jede Kamera, jede KI-gestützte Plattform ist ein Teil des Systems, das aufhört, erklärbar und kontrollierbar zu sein.
Was Snowden einst skizzierte – die systematische Überwachung durch Staaten – wird heute nahtlos fortgeführt durch privatwirtschaftliche Akteure mit globalem Einfluss, die nicht nur überwachen, sondern vorhersagen und verhaltenslenken.
Die Frage ist längst nicht mehr, wie wir das stoppen.
Die Frage ist, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, dass es nicht gestoppt wurde.
Digitale Selbstverteidigung? Ein frommer Mythos
Zwar gibt es Tools zur digitalen Selbstverteidigung: verschlüsselte Messenger, Privacy-Browser, anonymisierende Betriebssysteme, Tracker-Blocker und VPNs. Doch ihre Wirksamkeit ist begrenzt – und ihre Anwendbarkeit realistisch betrachtet nur für eine kleine, technikaffine Minderheit praktikabel.
Wer heute wirklich aussteigen will, müsste konsequent auf digitale Endgeräte, smarte Infrastruktur, Online-Kommunikation und algorithmische Plattformen verzichten. Das bedeutet: Abschied vom Komfort, von Teilhabe, von gesellschaftlicher Sichtbarkeit.
Der letzte Ausweg – und warum ihn kaum jemand geht
Die einzige echte Möglichkeit, sich dem datengetriebenen Zugriff zu entziehen, bleibt die Flucht in die analoge Welt: Barzahlung, kein Smartphone, kein Internetanschluss, kein Streaming, keine sozialen Medien, keine Karten- oder Bonusprogramme. Doch wer diesen Weg geht, wird schnell zur Randfigur – nicht nur technisch, sondern sozial. Die digitale Welt ist kein Parallelraum mehr, sie ist der default mode unserer Gesellschaft.
Fazit
Permanent Record 2.0 ist kein Buch – es ist unsere Gegenwart. Der Kontrollverlust ist nicht hypothetisch, sondern strukturell. Datenschutz ist nicht tot – er wurde langsam überrollt. Und solange KI-Systeme unsere Daten interpretieren, bevor wir ihre Sammlung überhaupt bemerken, bleibt uns nur eine unbequeme Wahrheit:
Wir sind nicht die Nutzer des Systems.
Wir sind das Produkt.